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Im Laufe vieler Jahre und durch intensives Training habe ich Gilbertus Albans gelehrt, seinen Geist zu organisieren und systematisch zu denken, bis seine Fähigkeiten denen einer Denkmaschine nahe kamen. Bedauerlicherweise war ich nicht in der Lage, ihm beizubringen, die richtige Wahl zu treffen.
Erasmus-Dialoge
Auf dem Hauptplatz über der abgeschirmten Gruft, in der sich ihre Speichersphären befanden, flackerten die zwei Allgeister erregt auf ihren Sockeln. Tausende von Datenströmen kamen vom Schlachtfeld über Corrin herein – Meldungen, Aktualisierungen und Warnungen.
Die menschliche Vergeltungsflotte fächerte sich auf und setzte in mehreren Wellen von allen Seiten zum Sturm auf die letzte Synchronisierte Welt an. Der feindliche Kommandant hatte sich schließlich doch nicht erpressen lassen und die Todesgrenze überschritten, womit er all die unschuldigen Gefangenen in der Brücke der Hrethgir zum Untergang verurteilt hatte. Doch die Sprengsätze waren nicht explodiert.
SeurOm und ThurrOm konnten das nicht verstehen.
Der doppelte Allgeist schickte zahllose widersprüchliche Anweisungen an die Roboter-Schlachtschiffe und dirigierte sie einzeln nach unterschiedlichen Plänen. Infolgedessen reagierten die Einheiten der Maschinenabwehr im Orbit mit unvorhersehbarem Chaos.
Erasmus war mit der Verwirrung vollauf zufrieden. Er musste sein Ziel ohne Einmischung durch den dualen Omnius erreichen.
Sein instabiler Kontakt zu Gilbertus riss ab, als zahlreiche Explosionen und Energieentladungen auf dem Schlachtfeld die primitiven Systeme an Bord der Frachtcontainer störten. Erasmus hielt immer noch das nutzlos gewordene Wächterauge in der Hand, bis er es zu Boden warf und zertrat. War er etwa wütend?
Der autonome Roboter verschaffte sich Zugang zu einem Kontrollsystem, das einige der kleineren Verteidigungsschiffe steuerte, die noch nicht an die Front beordert worden waren. Erasmus wählte eins aus und übernahm von der Oberfläche Corrins aus die vollständige Kontrolle über das Schiff.
Als die direkte Verbindung zu allen Maschinensystemen stand, konnte er das Schiff bewegen. Dann erteilte er den Kampfmeks an Bord neue Befehle, ohne dass SeurOm oder ThurrOm etwas davon bemerkten. Diese Aufgabe war auch ohne die Einmischung der Allgeister schwierig genug.
Er fand den wichtigsten der Container und dirigierte das kleine Roboterschiff längsseits. Gilbertus hielt sich darin auf. Das Schiff dockte an.
Obwohl niemand ihn sah, bildete Erasmus ein Lächeln auf seinem Gesicht. Inzwischen war es für ihn schon fast zu einer Gewohnheit geworden.
Der Gestank war furchtbar, die Luft kaum atembar und der Sauerstoff nahezu aufgebraucht. Der Metallboden und die Wände schienen sämtliche Wärme abzuziehen, aber trotzdem erzeugten die vielen ungewaschenen Körper, die sich aneinander drückten, eine erstickende Hitze.
Gilbertus saß neben dem Serena-Klon. Er hielt ihre Hand, und sie drückte sich an seine Brust. Er war aus eigenem Antrieb hierher gekommen. Vielleicht war es nicht unbedingt eine logische Entscheidung gewesen, aber er war bereit, damit zu leben. Entweder würde der Trick mit dem menschlichen Schutzschild funktionieren – oder nicht.
Tief im Innern ärgerte er sich darüber, dass Erasmus ihn hintergangen hatte, als er Serena zusammen mit den anderen Geiseln fortschaffen ließ. Als der Hintergrund des Plans deutlich geworden war, als Serenas Bild an die Armee der Menschheit gesendet worden war, hatte Gilbertus verstanden. In logischer Hinsicht ergab nun alles Sinn; die Einbeziehung dieser speziellen Geisel mochte sich sogar als entscheidender Faktor erweisen.
»Wenn es nur nicht ausgerechnet du gewesen wärst«, flüsterte er ihr zu.
Die anderen Geiseln im Container murrten, rückten unruhig hin und her und beschwerten sich. Keiner von ihnen wusste, was vor sich ging. Manche hatten flüsternd das Gerücht verbreitet, dass die freien Menschen zu ihrer Rettung gekommen waren, andere befürchteten, dass dies nur ein neues schreckliches Experiment in Massenpsychologie war, das Erasmus ausgebrütet hatte. Gilbertus hatte versucht, den zwei Männern, die direkt neben ihm und Serena kauerten, den genauen Sachverhalt zu erklären, aber sie schenkten seiner Analyse genauso wenig Glauben wie den mehreren Dutzend alternativer Erklärungen.
Rekur Van war ebenfalls in seiner Lebenserhaltungseinheit an Bord genommen worden. SeurOm und ThurrOm schienen es darauf abgesehen zu haben, ihre menschlichen Gefangenen in die Schusslinie zu bringen. Der arm- und beinlose Tlulaxa wand sich und beklagte sich so laut, dass Gilbertus mit Serena einen anderen Bereich des Frachtcontainers aufgesucht hatte. Gemeinsam würden sie warten, bis alles vorbei war.
Seiner Ansicht nach hätte die Krise mittlerweile längst entschieden sein müssen. Die Verzögerung war ein gutes Zeichen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hatte sich der Kommandant der Liga zurückgezogen. Andernfalls wären Gilbertus und alle übrigen Geiseln inzwischen tot.
Aber warum waren dann durch die winzigen Bullaugen so viele Kampfhandlungen zu sehen? Überall blitzte es, gab es Explosionen, flogen die unterschiedlichsten Schiffstypen in alle möglichen Richtungen. Etliche der größeren Embleme waren ihm unbekannt. Schlachtschiffe der freien Menschen? Aber sie bewegten sich innerhalb des Störfeldnetzes, was die Brücke der Hrethgir zur Detonation hätte bringen müssen.
Gilbertus wandte sich vom Fenster ab. Endlich war er mit Serena zusammen.
»Es wird nicht mehr lange dauern«, versuchte er sie zu trösten. »Die Angelegenheit dürfte bald bereinigt sein.« Er wusste, dass die Millionen Menschen an Bord der Brückeneinheiten nicht genug Nahrung, Wasser und Luft hatten, um länger als ein paar Tage überleben zu können. Allein die Organisation des logistischen Problems, sie alle wieder zur Oberfläche zu schaffen, würde mindestens so viel Zeit in Anspruch nehmen.
Sie spürten, wie der überfüllte Frachtcontainer vibrierte, als ein Raumschiff längsseits ging und andockte. Das Manöver wirkte unbeholfen, als würde es von unerfahrener Hand ausgeführt. Gilbertus ging schnell die Möglichkeiten durch und fragte sich, ob vielleicht Menschen gekommen waren, um sie zu retten. Was jedoch nicht dem entsprach, was er sich gewünscht hätte.
Als sich das primitive Schott öffnete, kamen sieben klobige Kampfroboter hereingeklettert. Ihre schweren Schritte ließen den Boden erzittern, und die Schwingungen waren in allen Räumen des Frachtcontainers zu spüren. Die Geiseln wichen ihnen ängstlich aus, wollten ihre Aufmerksamkeit nicht auf sich lenken. Doch die Roboter schienen genau zu wissen, was sie wollten.
Gilbertus kam auf die Beine. Jetzt verstand er. Erasmus hatte ihm genügend Informationen gegeben, bevor die Kommunikationsverbindung mit dem Wächterauge abgerissen war.
Die Roboter blieben vor ihm stehen, wie eine unerbittliche Macht, wie Gefängniswächter, die einen Häftling zur Hinrichtung führen wollten. »Ihr seid gekommen, um mich zu retten«, sagte er.
»Erasmus hat es befohlen.«
Die Menschen, die sich um ihn drängten, riefen, dass auch sie gerettet werden wollten. Alle spürten, wie die Luft knapp wurde, und viele hatten seit zwei Tagen nichts mehr gegessen. Gilbertus ließ den Blick hin und her wandern. Dann griff er nach Serenas Hand und zog sie auf die Beine. »Ich werde keinen Widerstand leisten.«
»Du kannst uns keinen Widerstand leisten.«
»Aber ich muss Serena mitnehmen.«
Die Roboter zögerten. »Nein. Nur einer von uns soll mit dir nach Corrin zurückkehren.«
Gilbertus runzelte die Stirn und versuchte nachzuvollziehen, was Erasmus beabsichtigte. Dann erkannte er, dass der unabhängige Roboter wahrscheinlich die zwei Omnius-Inkarnationen ausgetrickst hatte. Für ihn wäre es einfacher, die Programmierung eines einzelnen Kampfroboters zu manipulieren, als alle sieben gleichzeitig unter Kontrolle zu halten. Erasmus musste sich ausreichend Zeit verschaffen, um Gilbertus zurück in die zweifelhafte Sicherheit der Planetenoberfläche zu schaffen.
»Ich werde nicht ohne Serena gehen.« Gilbertus verschränkte trotzig die kräftigen Arme über der Brust. Serena blickte vertrauensvoll mit ihren lavendelfarbenen Augen zu ihm auf.
Sechs der Roboter traten zurück. »Wir werden als Wache für den Serena-Butler-Klon an Bord dieses Containers zurückbleiben.«
»Wovor oder wogegen wollt ihr sie bewachen?«
Die Roboter hielten kurz inne, während sie neue Anweisungen empfingen. Schließlich sagte der führende Mek: »Erasmus fordert dich auf, ihm zu vertrauen.«
Die Schultern des Menschen fielen kraftlos herab, und er ließ Serenas Hand los.